#### **Bilanz und Perspektiven kultur- und sozialwissenschaftlicher Gedächtnisforschung, Berlin 27.-29. September 2023**
#### Call for Papers
Den Memory Studies und ihrem wissenssoziologischen Ableger, der Gedächtnissoziologie, ist in den letzten Jahrzehnten nicht nur in den Sozial- und Kulturwissenschaften, sondern auch darüber hinaus deutlich Aufmerksamkeit zuteil geworden. Dabei haben sich vielfältige Ansätze, Perspektiven, empirische Gegenstände und Methoden ausdifferenziert, die die sozial- und kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Gedächtnis im Sinne einer Organisation von Vergangenheitsbezügen als ein multiparadigmatisches, von unterschiedlichen Erkenntnisinteressen, Grundbegriffen und Konzepten geleitetes Unterfangen erscheinen lassen. Der Kongress Bilanzen und Perspektiven der kultur- und sozialwissenschaftlichen Gedächtnisforschung möchte vor diesem Hintergrund den Stand des bisher Erreichten Revue passieren lassen, zentrale theoretische Ansätze und methodische Zugänge diskutieren und Perspektiven für die Weiterentwicklung der dabei verhandelten Theorien und Methoden diskutieren.
Die einzelnen Beiträge sollten sowohl kritische Rückschau halten als auch Perspektiven für die Zukunft der Memory Studies im Allgemeinen oder der Gedächtnissoziologie im Besonderen identifizieren. Wir laden zu theoretisch und/oder empirisch orientierten Beiträgen entlang der folgenden zentralen Diskussionslinien ein:
1. Theoretische Traditions- und Entwicklungslinien
Im Anschluss an den Halbwachsschen Ansatz der kollektiven Gedächtnisse und an phänomenologische oder pragmatistische Überlegungen hat sich eine breite Rezeption und Ausdifferenzierung des Gedächtnisbegriffes entwickelt, sei es die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung Assmannscher Prägung, die Systemtheorie oder der gedächtnissoziologische Ansatz. Diese und weitere Zugänge zur Reflexion sozialer Vergangenheitsbezüge beinhalten indes bislang vernachlässigte Anschlussmöglichkeiten. Zu denken ist dabei etwa an die Theorie sozialer Zeit, an die Verbindung des Gedächtnisbegriffes mit Konzepten sozialer Ungleichheit, wie das Halbwachs in seinem Klassenbegriff begonnen hat, oder an die Anwendung der Begrifflichkeit in komplexen Phänomenzusammenhängen wie der Migration, der Gewalt und des Krieges, der Katastrophe oder der Globalisierung. Beiträge zur Fortschreibung theoretischer Traditions- und Entwicklungslinien sollten die explizit verwendeten Konzepte und Begriffe und/oder implizit vorausgesetzten konzeptionellen Zusammenhänge reflektieren und im Hinblick auf mögliche Weiterentwicklungen diskutieren.
2. Method(olog)ische Folgerungen
Sowohl in den Memory Studies wie in der Gedächtnissoziologie beginnen sich spezifische methodische und methodologische Überlegungen auszubilden (vgl. Keightley/Pickering 2018; Dimbath et al. 2023). Dazu gehört, die den methodischen Zugängen innewohnenden Temporalitäten systematisch auf die zu erschließenden Vergangenheits- und Zukunftsbezüge gesellschaftlicher und sozialer Gedächtniszusammenhänge zu beziehen. Gerade die Verbindung von empirischer Forschung und theoretischer Arbeit eröffnet hier neue Möglichkeiten und Differenzierungen. Beiträge zu methodologischen Konsequenzen sollten die Passung von empirischem Gegenstand, gedächtnissoziologischer Fragestellung und Methodik sowie begrifflichen Vorentscheidungen reflektieren und ‚gedächtnissensible‘ Methodologien der kultur- und sozialwissenschaftlichen Gedächtnisforschung entwickeln, die der Temporalität der Methode und des Gegenstands gleichermaßen Rechnung tragen.
3. Gegenstandsfelder
Memory Studies, kulturwissenschaftliche und gedächtnissoziologische Ansätze haben eine Vielzahl von Forschungsfeldern und -gegenständen erschlossen. Hier könnte eine Bilanzierung zum einen den aktuellen Stand erfassen und die Erschließung neuer Felder und Gegenstände vorantreiben. Als Herausforderungen sind dabei die Veränderung von Gedächtnisformen durch Digitalisierung bzw. Algorithmisierung, Globalisierung und Virtualisierung zu nennen. Ebenso geraten etwa beim Gedächtnis sozialer Bewegungen zunehmend künftige Risiken (z. B. Klimawandel) in den Blick und bringen auf diese Weise neue Formen sozialer Gedächtnisse hervor. Entsprechende Beiträge können etwa die ‚Erschließungsgeschichte‘ bestimmter Forschungsperspektiven und Gegenstände nachzeichnen und Ansätze oder Strategien zur Erschließung neuer Gegenstandsfelder entwickeln.
4. Interdisziplinarität
Eine Stärke gedächtnistheoretischer Ansätze ist die breite interdisziplinäre Streuung in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Auffällig ist jedoch die wechselseitige Distanz zur Geschichtswissenschaft, obwohl die Nähe groß ist. Hier wären methodische, thematische und auch theoretische Konstrukte hinsichtlich ihrer wechselseitigen Anschlussfähigkeit zu reflektieren. Das gilt gleichermaßen für andere Forschungsgebiete wie die Digital Humanities, die Wissenschaftstheorie, die Philosophie oder die Rechtswissenschaft. Beiträge sollten etablierte interdisziplinäre Zusammenhänge der Memory Studies und der Gedächtnissoziologie kritisch reflektieren, nach den immanenten Grenzziehungen und Öffnungen fragen und Möglichkeiten gedächtnistheoretisch motivierter Inter- und Transdisziplinarität skizzieren.
Der Anlass der Konferenz ist die Fertigstellung des Handbuchs zur sozialwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, an dem die Organisator*innen (Mathias Berek, Kristina Chmelar, Oliver Dimbath, Hanna Haag, Michael Heinlein, Nina Leonhard, Valentin Rauer, Gerd Sebald) zusammen mit vielen Autor*innen in den letzten Jahren gearbeitet haben.
Für Keynotes bei der Konferenz haben bisher zugesagt: Wulf Kansteiner (Aarhus), Susanne Buckley-Zistel (Marburg), Jeffrey K. Olick (Charlottesville/Virginia), Andrew Hoskins (Glasgow), Emily Keightley (Loughborough), Astrid Erll (Frankfurt), Achim Landwehr (Düsseldorf).
Abstracts (und Panelvorschläge) im Umfang von max. 400 Worten bitte bis zum 15. Mai 2023 senden an: Oliver Dimbath ([dimbath@uni-koblenz.de](mailto:dimbath@uni-koblenz.de)), Nina Leonhard ([nina.leonhard@berlin.de](mailto:nina.leonhard@berlin.de)), Mathias Berek ([berek@tu-berlin.de](mailto:berek@tu-berlin.de)) und Gerd Sebald ([gerd.sebald@fau.de](mailto:gerd.sebald@fau.de)).